SINNVOLLE ERLEICHTERUNG ODER GEFÄHRLICHE VERWÄSSERUNG? DER ESRS-ENTWURF DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION

Die Europäische Kommission hat jetzt ihre Vorschläge für Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen vorgelegt. Deren Anforderungen bleiben deutlich hinter den von einem Expertengremium verfassten Entwürfen zurück.
Worum geht es?
Die Europäische Kommission hat am 9. Juni ihre Vorschläge für die Standards nach der neuen Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie (Corporate Sustainability Reporting Directive – CSRD) veröffentlicht. Die Richtlinie verpflichtet Unternehmen der europäischen Wirtschaft – gestaffelt nach Größe und Umsatz – beginnend ab dem Geschäftsjahr 2024 zu einer ausführlichen und detaillierten ESG-Berichterstattung. Die Standards (European Sustainability Reporting Standards – ESRS) konkretisieren diese Berichtspflichten durch zwei allgemeine und zehn themenspezifische Regelwerke. Sektorspezifische Standards sollen noch folgen. Die ESRS werden als delegierter Rechtsakt zur CSRD in Kraft gesetzt.
Entwürfe der ESRS hatte die Europäische Beratungsgruppe für Rechnungslegung (European Financial Reporting Advisory Group – EFRAG) im November vergangenen Jahres vorgelegt und waren von der Kommission zur Konsultation an die Mitgliedsstaaten übermittelt worden. Daraufhin waren auch aus Deutschland zum Teil sehr kritische Stellungnahmen abgegeben worden. Im März hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Parlament angekündigt, bis zum Herbst Vorschläge vorzulegen, Berichtspflichten von Unternehmen zu vereinfachen und um 25 Prozent zu reduzieren.
Die Änderungen der Kommission
Die Kommission hat die ESRS-Entwürfe, die bereits im Laufe des Konsultationsverfahren der EFRAG erheblich verschlankt und vereinfacht worden waren, vor diesem Hintergrund weiter modifiziert:
- Mehr Wesentlichkeitsprüfung: So sollen nur noch die allgemeinen Offenlegungspflichten nach Standard ESRS 2 ohne weiteres von allen verpflichteten Unternehmen erfüllt werden müssen. Alle übrigen Angaben müssen nur dann gemacht werden, wenn sie in einer strukturierten Analyse von den Unternehmen als wesentlich eingestuft werden. Die ersten Entwürfe der EFRAG hatte die Wesentlichkeit noch bei allen Standards vorausgesetzt: Unternehmen hätten bei den jeweiligen Offenlegungspflichten darlegen müssen, warum diese Vermutung gegebenenfalls nicht zutrifft. Die EFRAG selbst hatte diese Annahme bereits reduziert und neben den allgemeinen Offenlegungspflichten nur noch zwei themenbezogene Standards (Klima und eigene Belegschaft) als unabhängig von einer Wesentlichkeitsprüfung für verbindlich erklärt.
- Mehr Freiwilligkeit: Zugleich hat die Kommission die Offenlegung einer Reihe von Informationen, deren Angabe zuvor verpflichtend war, nun auch unabhängig von der Wesentlichkeitsanalyse freigestellt. Das gilt etwa für Zuordnungen von Aktivitäten zu einer Hierarchie von Maßnahmen zur Schadensbegrenzung, bestimmte Angaben im Zusammenhang mit Biodiversität und die Angabe des Umfangs der tarifvertraglichen Bindung und Sozialversicherung.
- Mehr Übergang: Schließlich hat die Kommission weitere Übergangsbestimmungen geschaffen, die es insbesondere den kleineren unter den verpflichteten Unternehmen erlauben, in die Berichtspflicht „hineinzuwachsen“. So werden Unternehmen mit durchschnittlich bis zu 750 Beschäftigten vorübergehend von einigen Informationspflichten befreit, die als besonders belastend identifiziert wurden. Diese Unternehmen können nach dem Entwurf z.B.:
- Im ersten Berichtsjahr auf die Angabe von Scope-3-Treibhausgas-Emissionen verzichten und den gesamten Standard mit Berichtspflichten zur eigenen Belegschaft (ESRS-S1) außer Acht lassen. Wird von letzterer Möglichkeit Gebrauch gemacht, tritt allerdings eine leichter zu erfüllende Erläuterungspflicht an die Stelle der umfangreichen Berichtspflichten nach diesem Standard.
- In den ersten beiden Berichtsjahren auf die Erfüllung der Informationspflichten nach den Standards ESRS-E4 (Biodiversität) und den “Sozialstandards” ESRS-S2 (workers in the value chain), ESRS-S3 (affected communities) und ESRS S4 (consumers und end-consumers) verzichten, müssen aber hier auch einen knappen “Ersatzbericht” erstatten.
Weitere Übergangsvorschriften gelten für alle Unternehmen und betreffen zum Beispiel bestimmte Angaben zur Wertschöpfungskette oder Daten zu den finanziellen Auswirkungen von Umweltrisiken.
Reaktionen
Wenig überraschend ist der Entwurf der Kommission auf ein geteiltes Echo gestoßen. Während er von Umweltverbänden scharf kritisiert wird, hat sich etwa der Gesamtverband der Versicherer zustimmend geäußert, zugleich allerdings für noch mehr Erleichterungen plädiert. In einem öffentlich übertragenen Gespräch von Vertretern der zuständigen Generaldirektion der Kommission mit Mitgliedern der EFRAG wurde nicht nur eine Verwässerung der Richtlinien zur Klima- und Umweltbezogenen Berichterstattung, sondern auch der Standards zu den sozialen Themen kritisiert. Deutliche Kritik kam von Vertretern der Finanzwirtschaft, die befürchten, auf der Grundlage des vorliegenden Entwurfs nicht an hinreichend verlässliche und vergleichbare Informationen zu gelangen, die sie zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Verpflichtungen aus der Sustainable Finance Disclosure-Regulierung benötigen.
Die Kommissionsvertreter wiesen dagegen daraufhin, dass es den Unternehmen keineswegs freigestellt sei, die in den Standards genannten Offenlegungspflichten zu erfüllen. Die Angabe von wesentlichen Informationen sei nach wie vor verpflichtend, und es sei auch Gegenstand der Abschlussprüfung, ob die Wesentlichkeitsanalyse ordnungsgemäß durchgeführt worden sei.
Bewertung
Ob die erhoffte Erleichterung der Unternehmen dadurch erreicht wird, dass Angaben von Nachhaltigkeitsinformationen im Zusammenhang mit dem Klimawandel und der eigenen Belegschaft nun unter dem Vorbehalt der Wesentlichkeit stehen, ist zweifelhaft: Denn die Unternehmen stehen nach wie vor in der Pflicht, ihre gesamte Geschäftstätigkeit daraufhin zu analysieren, ob sie wesentliche Auswirkungen auf diese (und andere) ESG-Themen hat oder von diesen wesentlich betroffen wird. Um das beurteilen zu können, werden in vielen Fällen aber eben die Daten ermittelt werden müssen, die zuvor unabhängig von dieser Einschätzung anzugeben waren. Außerdem ist es kaum vorstellbar, dass es Unternehmen gibt, die im Zusammenhang mit ihrer Geschäftstätigkeit keinerlei wesentliche Auswirkungen im Zusammenhang mit ihrer Belegschaft sehen. Auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel dürfte die Wesentlichkeit regelmäßig zu bejahen sein. Insofern könnten sich die Änderungen als eine nur scheinbare Erleichterung herausstellen.
Zum anderen besteht nach wie vor eine große Unsicherheit darüber, wie eine zuverlässige Wesentlichkeitsanalyse vorzunehmen ist. Das wurde auch mehrfach in dem genannten Gespräch zwischen Kommission und EFRAG thematisiert. Solange die Unsicherheit besteht, dürfte sie eine Versuchung darstellen, unliebsame Fakten zu verschweigen und so die Gefahr von Greenwashing erhöhen. Nicht umsonst kritisieren gerade Vertreter der Finanzwirtschaft, die aufgrund der sie betreffenden Regulierung auf zuverlässige Daten angewiesen ist, die Änderungen der Kommission scharf.
Wie geht es weiter?
Die Konsultationsphase der Kommission endet am 7. Juli 2023. Die Kommission plant, den Rechtsakt noch im Juli anzunehmen, damit er den Vorgaben der CSRD entsprechend vier Monate später in Kraft treten kann. In dieser Zeit können das Europäische Parlament und der Rat noch Einwände erheben. Unternehmen, die bereits nach geltendem Recht nichtfinanzielle Berichte erstatten müssen, sind ab 2024 zur Nachhaltigkeitsberichterstattung nach neuem Recht verpflichtet; die meisten anderen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern erst ab 2025.
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Dr. Thomas Asmus Partner
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Dr. Lorenz Müller Former State Secretary and Director at the German Bundestag Of Counsel
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Dr. Nils Christian Ipsen LL.M. Partner